Berufskrankheiten auf fremde Rechnung


 


FOCUS Magazin Nr. 33 (2003) 
BERUFSKRANKHEITEN

Auf fremde Rechnung

Montag, 11.08.2003, 00:00· von FOCUS-Redakteur Christoph Elfleinund FOCUS-Online-Redakteurin Iris Mayer  


Die Berufsgenossenschaften wälzen Kosten in Milliardenhöhe auf die gesetzlichen Kassen abMittwoch war einer der seltenen guten Tage. Zwei Cortisonspritzen öffneten die verklebten Bronchien, und Alfred Sprindt schaffte aus eigener Kraft und ohne lebensbedrohenden Erstickungsanfall die drei Meter zur Toilette. Asbeststaub hat Lunge und alle Atmungsorgane des früheren Zentralheizungsbauers heillos vernarbt.

Mit der Diagnose Asbestose begann 1992 der zähe Kampf des Remscheiders gegen Schmerz und Bürokraten. Sechs Jahre Rechtsstreitigkeiten focht der 73-Jährige durch, neun Gutachter mussten die unheilbare Berufskrankheit beurteilen. „Die wollten mich hinhalten, bis ich tot bin und keiner mehr zahlen muss“, bilanziert er verbittert.

Irrsinn mit System. 15 Milliarden Euro löhnt die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) laut einer Studie der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin jährlich für arbeitsbedingte Gesundheitsschäden. „Eigentlich müssten dafür Unfallversicherer und Berufsgenossenschaften aufkommen. Doch die wälzen alles ab“, prangert Angela Vogel, Chefin des Verbands der arbeits- und berufsbedingt Erkrankten, an. Dieses Sparpotenzial gehöre endlich auf die Reformagenda von Kanzler Schröder. Die Ausgliederung von Krankengeld und Zahnersatz im Volumen von elf Milliarden Euro könne man sich dann schenken.

Von den 15 Milliarden Euro Behandlungskosten erstatteten die Berufsgenossenschaften nur 180 Millionen. Nicht umsonst kletterten die Beitragssätze der verschuldeten GKV auf durchschnittlich 14,3 Prozent. Der Obolus der Arbeitgeber für die Haftpflicht von 43 Millionen Beschäftigten dümpelt dagegen bei 1,33 Prozent. Zudem konnten sich die Berufsgenossenschaften ein Finanzpolster von sechs Milliarden Euro zulegen.

Kein Wunder. „Die Berufsgenossenschaften bestimmen letztlich selbst, in welchem Maß sie sich in die eigene Tasche greifen.“ Damit kritisiert Vogel das umstrittene Verfahren, mit dem die Unfallversicherer festlegen, ob sie bleibende Gesundheitsschäden durch die Arbeit überhaupt anerkennen und wie viel sie zahlen.

Zur Kasse, bitte. Die IKK Nordrhein in Bergisch-Gladbach lehnt es als Erste ab, dieses System länger zu subventionieren. „Diejenigen sollen für die Berufskrankheiten zahlen, die dafür auch zuständig sind“, fordert Vorstandsvorsitzende Brigitte Wutschel-Monka. Krebspatienten werden deshalb in einem Programm betreut, das 20 verschiedene Diagnosen aus Arbeitsunfähigkeitszeiten und Therapie mit dem ausgeübten Job abgleicht und juristische Hilfestellung bietet. Ziel: Die Berufsgenossenschaft erkennt die Erkrankung als berufsbedingt an und zahlt. 1400 Fälle meldeten die Rheinländer bereits, 323-mal waren sie erfolgreich. Im Schnitt erhielt die IKK 20600 Euro pro Patient zurück. Die Erfahrung des Pilotprojekts zeige die enormen Sparmöglichkeiten. 5000 Krebsfälle, schätzt Wutschel-Monka, sind in Deutschland noch nicht als Berufskrankheit anerkannt – 100 Millionen Euro Kosten, die derzeit noch die Allgemeinheit trägt.

Neben der IKK profitieren auch die Betroffenen, weil sie eine höhere Rente durchsetzen können. Alfred Sprindt bekommt nach 40 Jahren Maloche, die ihm eine kaputte Lunge und zerstörte Bronchien einbrachten, nun von der Bau-Berufsgenossenschaft Rheinland und Westfalen 293 Euro Rente im Monat.


Quelle: http://www.focus.de/politik/deutschland/berufskrankheiten-auf-fremde-rechnung_aid_193539.html